Sozialstandards in der globalen Bekleidungsindustrie – Was hat sich seit Rana Plaza verändert?

Nach dem Einsturz einer Bekleidungsfabrik in Bangladesch im Jahr 2013 hat sich einiges getan in der globalen Bekleidungsindustrie. Der folgende Artikel betrachtet diese jüngsten Entwicklungen und gibt Einblick in die wissenschaftliche Annäherung an das Thema.

Wie kam es zur Katastrophe von Rana Plaza?

Am 24. April 2013 stürzte in der Stadt Sabhar, etwa 25 Kilometer nordwestlich von Dhaka, das neunstöckige Fabrikgebäude Rana Plaza ein. Mehr als 1100 Menschen kamen bei dem Fabrikeinsturz ums Leben, über 2400 Menschen wurden verletzt. Der Betreiber hatte lebensbedrohliche Baumängel ignoriert. Arbeiterinnen und Ar-
beiter hatten bereits zuvor Risse im Mauerwerk der Fabrik entdeckt und sich geweigert das Gebäude zu betreten. Aus Angst vor dem Verlust ihrer Arbeitsstelle und auf massive Drohung kehrten sie dennoch an ihre Arbeitsplätze zurück.

Handelt es sich bei dem Fabrikeinsturz von Rana Plaza auch um ein besonders schweres Unglück, so sind Vorfälle wie diese kein Einzelfall. Nur wenige Monate vor dem Vorfall, im November 2012, waren bei einem Fabrikbrand in der Tazreen Fabrik in Dhaka über 100 Menschen ums Leben gekommen und viele verletzt worden. Im Sep-
tember desselben Jahres wurden über 250 Menschen bei einem weiteren Fabrikbrand in Karachi, Pakistan, getötet. Die Ursachen für derlei Unglücke sind vielfältig.

Spätestens seit den 1970er Jahren, als große Handelshäuser begannen, direkt in Asien zu beschaffen und durch Skaleneffekte Niedrigstpreise zu erzielen, herrscht in der Branche ein immenser Preisdruck. Dieser hat, zusammen mit einer Historie komplizierter Zoll- und Handelsgesetze, dazu geführt, dass sich die Produktionsnetzwer-
ke in der Bekleidungsindustrie global tief verzweigt haben. Die Branche spricht von der Karawane, die immer weiter zieht auf der Suche nach den günstigsten Produk-
tionsbedingungen. In diesem Umfeld fühlen sich viele führende Handels- und Markenunternehmen nicht dazu in der Lage, all ihre Produktionsstätten gebührend zu prüfen. Andere sehen die lokalen Regierungen in den Produktionsländern in der Pflicht oder ihre Beschaffungsagenten, die als Zwischenhändler fungieren.

Erschwerend kommt hinzu, dass nur eine kleine Gruppe der Endkunden bereit zu sein scheint, wirklich mehr für nachhaltig produzierte Kleidung zu zahlen. Selbst im CSR-Bereich engagierte Unternehmen stoßen so an ihre Grenzen. Und für Länder wie Bangladesch entsteht mit einer Verbesserung der Sozialstandards immer auch das Risiko, ihre Preisvorteile gegenüber anderen, weniger entwickelten Ländern zu verlieren.

Ein unlösbares Problem?

In Anbetracht dieser Komplexität steht fest, dass nicht ein einzelner Akteur für Katastrophen wie die von Rana Plaza verantwortlich gemacht werden kann. Entsprechend schwierig ist es auch, geeignete Lösungen zu identifizieren, um die Einhaltung von Arbeitsstandards in globalen Produktionsnetzwerken sicherzustellen.

Das Unglück von Rana Plaza aber war ein Weckruf, der zu einer Vielzahl von Initiativen von Seiten der Unternehmen, Gewerkschaften, Regierungen und Nicht-Regier-ungsorganisationen (NGOs) geführt hat. Insofern sind die derzeitigen Entwicklungen in der Bekleidungsindustrie in Bangladesch eine Art natürliches Experiment, an-
hand dessen beobachtet werden kann, wie Sozialstandards in globalen Wertschöpfungsketten – nicht nur in der Bekleidungsindustrie – verbessert werden können.

„Made in Bangladesh“

Seit 2009 ist Bangladesch nach China der zweitgrößte Bekleidungsexporteur weltweit.1 Bangladeschs Bekleidungsindustrie beschäftigt rund 4 Millionen Menschen.2 Der Export von Bekleidung macht einen Anteil von etwa 13% des BIP und 80% der Exporte des Landes aus.3 Allein in den vergangenen 15 Jahren haben sich die Beklei-
dungsexporte von knapp 5 Mrd. US-Dollar auf über 25 Mrd. US-Dollar mehr als verfünffacht. Das Wohlergehen der Menschen in Bangladesch, vor allem der Frauen, die über 80% der Industrie ausmachen, hängt entscheidend von der Bekleidungsindustrie ab, die wiederum abhängig ist von westlichen Firmen.

Die Ready Made Garment-Industrie in Bangladesch zentriert sich auf die Hauptstadt Dhaka sowie die Stadt Chittagong im Süden Bangladeschs. Von hier aus wird die Ware per Flugzeug (Dhaka) und Schiff (Chittagong) vor allem in die USA und nach Europa transportiert. Im Jahr 2014 gingen rund 60% und 20% der Bekleidungsexpor-
te aus Bangladesch in die EU und die USA. Deutschland ist nach den USA das zweitgrößte Abnehmerland von Bekleidungsexporten aus Bangladesch.

Was hat sich getan?

Direkt nach dem Rana Plaza Unglück wurden drei nennenswerte Initiativen in Bangladesch initiiert, die alle ähnliche Ziele und Maßnahmen haben. Bereits im Mai 2013 wurde der Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh (Accord) als Reaktion auf die Katastrophe unterzeichnet mit dem Ziel, die Gebäude- und Arbeitssicherheit in der Textilindustrie zu verbessern. Unternehmen können dem Accord freiwillig beitreten, verpflichten sich dann aber dazu, ihre Fabriken regelmäßig zu überprüfen und bei Bedarf sicherer zu gestalten. Zwar beschränkt sich der Accord allein auf Bangladesch, doch ist er insofern etwas Besonderes, als erstmals auf transnationaler Ebene in Bezug auf ein konkretes Problem ein rechtlich bindendes Bündnis geschmiedet wurde, mit dem versucht werden soll, Firmen zur Rechenschaft zu verpflich-
ten.

Insofern ist der Accord eine institutionelle Innovation in der Tradition der Industriepartnerschaft zwischen Unternehmen und Gewerkschaften, allerdings auf globaler Ebene. Aus Deutschland haben den Accord bekannte Firmen wie u.a. Tchibo, die Otto Gruppe, Aldi (Nord und Süd), Lidl, Karstadt und Hess Natur unterzeichnet. Insgesamt 1600 Fabriken wurden vom Accord bisher inspiziert und 1358 sogenannte Corrective Action Plans für diese Fabriken veröffentlicht, die zu behebende Mängel hinsichtlich Brandschutz, Bausubstanz und Elektrik aufführen.

Die Umsetzung dieser Pläne geht bislang jedoch nur schleppend voran. Der Accord berichtet auf seiner Webseite, dass insgesamt 1182 Corrective Action Plans hinter dem vereinbarten Zeitplan zurückliegen. Ebenfalls im Jahr 2013 wurde ein US-amerikanisches Pendant zum Accord ins Leben gerufen. Die Alliance for Bangladesh Worker Safety (Alliance), die unter Beteiligung von Unternehmen der Bekleidungsindustrie, den Regierungen der USA und Bangladesch sowie Nicht-regierungsorgani-
sationen erarbeitet wurde, haben insgesamt 27 Unternehmen unterzeichnet, darunter große, auch in Deutschland bekannte Firmen, wie u.a. Walmart, GAP und Fruit of the Loom. Laut dem jüngsten Jahresbericht der Alliance wurden bislang 661 Fabriken inspiziert und 591 Corrective Action Plans angenommen, die durchschnittlich für die Behebung der festgestellten Mängel benötige Summe wird von der Alliance auf 250.000 bis 350.000 US-Dollar geschätzt.

Die Alliance wurde mitunter für die mangelnde Beteiligung der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Entwicklung und Governance der Initiative, ihre als schwach wahrge-
nommenen Durchsetzungsregeln sowie die fehlende finanzielle Verpflichtung der Mitgliedsunternehmen für die Behebung baulicher und anderer Sicherheitsmängel kritisiert.5
 
Neben der Identifikation und Behebung der baulichen und Sicherheitsmängel werden sowohl vom Accord als auch von der Alliance unter anderem Sicherheitstrain-
ings für Arbeiterinnen und Arbeiter durchgeführt, die Einrichtung demokratisch gewählter Arbeitnehmerkomitees unterstützt sowie Beschwerdemechanismen wie etwa eine Notrufnummer zur anonymen Meldung von Sicherheitsmängeln eingeführt. Außerdem werden im Rahmen der National Initiative under the Tripartite Plan of Action (NI), in gemeinsamer Anstrengung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sowie des Arbeits- und Beschäftigungsministeriums von Bangladesch, weitere Lieferantenfabriken inspiziert. Obwohl mit deutlich weniger Ressourcen als der Accord und die Alliance ausgestattet, hat die NI mittlerweile schon über 1450 Fabriken inspiziert.

Auch viele Industrieländer haben reagiert. In Deutschland beispielsweise wurde als Reaktion auf den Gebäudeeinsturz von Rana Plaza im November 2014 das Bündnis für nachhaltige Textilien (Textilbündnis) gegründet. Anders als der Accord und die Alliance handelt es sich hierbei um eine Multi-Stakeholder-Initiative. Bestehend aus über 170 Vertreterinnen und Vertretern der Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Standardorganisationen und Gewerkschaften hat sich das Textilbündnis zum Ziel gesetzt, so-
ziale, ökologische und ökonomische Verbesserungen entlang der Textillieferkette zu erreichen. Bereits ein Jahr nach seiner Gründung vereinte das Bündnis für nachhal-
tige Textilien fast die Hälfte der deutschen Textilwirtschaft. Der Aktionsplan des Textilbündnisses sieht vor, dass die unterzeichnenden Firmen sich zur Verbesserung von Sozial- und Umweltstandards in ihren Zulieferfirmen verpflichten. Das Textilbündnis stellt dafür konkrete Umsetzungsanforderungen auf und überprüft regelmäßig den Fortschritt hinsichtlich der Verfolgung und Erreichung der Ziele.

Viele Initiativen adressieren Arbeitsstandards

Ebenfalls aus Deutschland stammt die Garment Industries Transparency Initiative (GITI), gegründet von Peter Eigen im Rahmen der HUMBOLDT-VIA-DRINA Governan-
ce Platform. Diese Multi-Stakeholder-Initiative setzt sich für mehr Transparenz und bessere Arbeitsbedingungen in der globalen Bekleidungsindustrie ein und überträgt dabei das Prinzip des sogenannten Trialogs zwischen Regierung, Privatsektor und Zivilgesellschaft, das im Rohstoffsektor bereits durch die Extractive Industries Transpa-
rency Initiative (EITI) umgesetzt wird, auf den Bekleidungssektor.

Meist geht es bei den Initiativen nicht darum, neue Standards zu definieren – wobei der Fokus auf Gebäudesicherheit sicherlich seit Rana Plaza neu hinzugekommen ist – sondern eher, Wege zu finden, wie bereits etablierte Standards, insbesondere die ILO Kernarbeitsnormen, aber auch die UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschen -
rechte oder die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, durchgesetzt werden können. Auch auf politischer Ebene wird Einfluss genommen, etwa im Rahmen der Außenhandelspolitik oder der transnationalen Zusammenarbeit (z.B. EU Sustainability Compact). Viele Unternehmen ergreifen darüber hinaus im Rahmen freiwillig-
er unilateraler CSR-Maßnahmen selbst die Initiative oder bringen sich in bestehende Multi-Stakeholder-Initiativen ein wie die Fair Labour Association oder Nationale CSR-Foren.

So begrüßenswert diese Vielzahl an Initiativen ist, sie führt auch zu Problemen. Beispielsweise sehen der Accord und die Alliance regelmäßige Audits der Lieferanten vor. Dazu kommen von den westlichen Firmen selbst initiierte Audits oder Audits anderer nationaler und internationaler Initiativen. Ein Lieferant, der unter Hochdruck arbeitet, wird somit im Zweifelsfall ständig auditiert, und dies mitunter gemäß unterschiedlicher Standards aus unterschiedlichen Ländern oder vonseiten unterschied -
licher Unternehmen. Um auf diese Problematik zu reagieren, formieren sich mittlerweile Projekte wie das Social and Labour Convergence Project, welches eine Konso-
lidierung redundanter Audits anstrebt.

Internationales und transdisziplinäres Forschungsprojekt

Der Evaluierung dieser Vielzahl an Initiativen widmet sich nun ein mit 800.000 Euro von der Volkswagen Stiftung, dem Wellcome Trust und dem Riksbankens Jubileums-
fond gefördertes Forschungsprojekt. Die transdisziplinäre Studie mit dem Namen Changes in the Governance of Garment Global Production Networks: Lead Firm, Supplier and Institutional Responses to the Rana Plaza Disaster möchte die aktuellen Entwicklungen in Bangladesch aus der Perspektive unterschiedlicher am Produk-
tionsprozess beteiligter Akteure beleuchten.

Unter der Leitung von Wirtschaftswissenschaftlerin Elke Schüßler haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Schweden, Großbritannien, Australien und Bangladesch zum Ziel gesetzt, Sachlichkeit in eine häufig emotional geführte Debatte in dem hochkomplexen Handlungsfeld zu bringen. Dies soll durch ein einzigartiges Untersuchungsdesign erfolgen, welches rechtliche, politische, ökonomische, unternehmensbezogene und nicht zuletzt auch persönliche Einflussfak-
toren und Konsequenzen der unterschiedlichen Maßnahmen untersucht. Dabei wird der Blick auf Potenziale, aber auch auf mögliche Konsequenzen und Gefahren ge-
richtet.

In vier zentralen Abnehmer-Märkten (Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien) sollen hierzu 20 führende Unternehmen aus unterschiedlichen Marktseg-
menten bezüglich ihrer Erfahrungen in Bangladesch und ihren Präferenzen bezüglich unterschiedlicher Maßnahmen zur Verbesserung von Sozialstandards in ihren Pro-
duktionsnetzwerken befragt werden. Flankierend wird eine Untersuchung von ca. 150 Fabrikmanagern im Produktionsland Bangladesch Einblick in die Herausforder-
ungen gewähren, die aus Sicht der Arbeitgeber mit neuen Standards und Anforderungen einhergehen. Auch die Perspektive der Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter und die politischen Rahmenbedingungen in Bangladesch werden untersucht So wird es möglich, die Maßnahmen zu identifizieren, die aus Sicht der Unternehmen und der Betroffenen effizient und effektiv sind.

Gleichzeitig können die Probleme bestehender Maßnahmen umfassend und mit einem unabhängigen Blickwinkel herausgearbeitet werden. Von der Studie erhoffen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler belastbare Ergebnisse hinsichtlich der nachhaltigen Verbesserung von Arbeits- und Umweltstandards im globalen Bekleidungshandel. Aufgrund seiner Internationalität, seiner exzellenten personellen Zusammensetzung sowie seiner angesehenen Wissenschaftsförderung verspricht das Projekt,eine hohe wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit zu erzielen. So sollen die Erkenntnisse aktuelle und zukünftige Steuerungsversuche in der Be-
kleidungsbranche, aber auch darüber hinaus, informieren und beeinflussen.


http://www.wiwiss.fu-berlin.de/forschung/Garments

Elke Schüßler

Elke Schüßler ist Juniorprofessorin für Organisationstheorie am Management-Department der Freien Universität Berlin. Sie leitet das von der Volkswagen Stiftung geförderte Forschungsprojekt „Changes in the Governance of Garment Global Production Networks: Lead Firm, Supplier and Institutional Responses to the Rana Plaza Disaster”.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nora Lohmeyer

Nora Lohmeyer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Management-Department der Freien Universität Berlin und wird im genannten Projekt die Untersuchungen in Deutschland begleiten.