Die größte Urbanisierung der Weltgeschichte

In gut zehn Jahren wird jeder achte Erdenbürger in einer chinesischen Stadt leben. Chinas extreme Urbanisierung birgt große Chancen und Risiken.


Bis in die 1950er Jahre war Peking von einer Stadtmauer umgeben. Diese setzte der chinesischen Hauptstadt klare Grenzen. Aber die alte Mauer sowie ihre prachtvollen Tore mussten in der Nachkriegszeit einer Autobahn weichen, dem sogenannten zweiten Ring. Der erste Ring besteht aus einer Mauer um die Verbotene Stadt, welcher bis heute existiert. Auf die zweite Ringstraße folgte wenig später eine dritte, die schon bald überlastet war. Heute baut man an der Siebten. Sie  st so weit vom Stadtzentrum entfernt, dass sie fast entlang ihrer gesamten Strecke nicht durch das Pekinger Stadtgebiet führt, sondern durch die Nachbarprovinz Hebei. An ihrem entlegensten Punkt ist sie knapp 180 Kilometer von der Verbotenen Stadt entfernt. Weil schon abzusehen ist, dass auch dies nicht reichen wird, ist der achte Ring bereits in Planung.

Die Ursachen hierfür finden sich in der Entwicklung der Bevölkerungszahl Pekings. 1930 lebten rund 1,6 Millionen Menschen in der Stadt, etwas weniger als im heutigen Hamburg. 1953 waren es bereits 2,8 Millionen. Im Jahr der Olympiade 2008 betrug die Einwohnerzahl knapp 12 Millionen. Heute leben über 20 Millionen Menschen in der Hauptstadt, mehr als in ganz Ostdeutschland. Dies ist nicht nur durch Zuwanderung und Bevölkerungswachstum geschehen, sondern auch in Folge von Eingemeindungen. Trotzdem scheint der Anstieg der Pekinger Bevölkerung schier unglaublich. Die Entwicklung der Stadt stellt jedoch keinesfalls eine Ausnahme, sondern vielmehr die Norm dar.

Wenn irgendetwas den Namen „Megatrend“ verdient, dann ist es die Urbanisierung Chinas. Eine solche Welle der Verstädterung hat es in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben. Die Anzahl der chinesischen Stadtbewohner stieg in den vergangenen 30 Jahren um mehr als 500 Millionen. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl aller EU-Länder.

Das Ende des Wachstums ist noch nicht erreicht. Der Anteil der städtischen Bevölkerung Chinas liegt heute bei rund 56 Prozent, also weit unter jenen 70 Prozent, die bei Ländern mit einem ähnlichen Pro-Kopf-Einkommen wie in China die Regel sind. Folgerichtig wird die Stadtbevölkerung in China weiter wachsen: In den kommenden 15 Jahren voraussichtlich um mehr als 300 Millionen Menschen, in etwa das Äquivalent der US-amerikanischen Gesamtbevölkerung. Bis 2030 sollen mehr als eine Milliarde Menschen in den urbanen Zentren Chinas leben. Zu diesem Zeitpunkt wird jeder achte Erdenbewohner ein städtischer Chinese sein.

Marx, Dickens, Verstädterung

Die erste große Urbanisierungswelle fand rund 200 Jahre früher in Großbritannien statt, wo in den 1850er Jahren mehr Menschen in Städten lebten als in Dörfern. Ein Beobachter hiervon war Karl Marx. In seinen Augen bestand ein großer Vorzug der Verstädterung darin, dass sie die Menschen von der „Idiotie des Landlebens” befreite. Ob diese Darstellung ländlichen Lebens zutrifft, bleibt fraglich. Klar ist immerhin, dass die Verstädterung große Chancen und ebenso große Gefahren mit sich bringt.

Marx und sein Zeitgenosse Charles Dickens haben eine der Gefahren eindrücklich beschrieben — die Verelendung der städtischen Unterschicht. Eine zweite Hauptgefahr besteht darin, dass die Urbanisierung Grundlagen untergraben kann, wenn sie ökologisch nicht nachhaltig ist. Indessen sind die Chancen der Verstädterung mindestens so verlockend, wie die Gefahren ernst zu nehmend sind. Eine einigermaßen erfolgreiche Urbanisierung geht einher mit Wirtschaftswachstum, steigendem individuellen Wohlstand, höherem Bildungsniveau und besserer Lebensqualität. Mehr noch, sie ist die unentbehrliche Grundlage, ohne die moderne Gesellschaften und Ökonomien gar nicht denkbar sind.

„Gelingt es der chinesischen Regierung, die Chancen zu ergreifen und die Gefahren zu umschiffen?“

Zumindest ist sie sich der Potenziale und Risiken bewusst. „Chinas heutige Führung, vor allem Premierminister Li Keqiang, ist viel stärker pro-Urbanisierung eingestellt als ihre Vorgänger”, so Tom Miller, Autor des Buches „China’s Urban Billion“. „Sie glaubt, dass die Entwicklung großer, wohlhabender Städte den Anteil heimischer Nachfrage an der Gesamtwirtschaft steigern wird”, so Miller. „Das betrifft vor allem den privaten Konsum.”

Im Jahr 2010 erwirtschafteten Chinas Städte rund 75 Prozent des nationalen Bruttoinlandsproduktes. Bis 2025 wird dieser Anteil erwartungsgemäß auf 90 Prozent ansteigen. Damit würden die urbanen Zentren Chinas für etwa 20 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung aufkommen. Bis dahin sollen Chinas Städte rund 470 Millionen Arbeitsstellen bereitstellen — gut 170 Millionen mehr als im Jahr 2005.

Auch die Integration landflüchtiger Migranten hat in China bis jetzt vergleichsweise gut funktioniert. Sie ist allerdings nicht ohne schwere Probleme. Vor allem die rechtliche Situation der landesweit rund 200 Millionen Stadtbewohner ohne städtische Aufenthaltsgenehmigung — chinesisch hukou — sorgt seit Jahrzehnten für Reibungen, weil sie die Migranten und ihre Familien von grundlegenden sozialen Diensten in den Städten ausschließt.

Die schlechten Lebensbedingungen hingegen, wie Marx und Dickens sie im England ihrer Zeit beobachteten, lassen sich in heutigen chinesischen Städten kaum beobachten. Auch die Slums, d ie i n a nderen S chwellenländern wie Brasilien oder Indien das Bild der Städte mitprägen, trifft man in China nicht an. Das ist eine bemerkenswerte Leistung, insbesondere, wenn man die Größe der Aufgabe bedenkt, vor welcher chinesische Stadtplaner stehen.

Heute gibt es in China 125 Städte, die mehr als eine Million Einwohner zählen. Im Laufe der nächsten zehn Jahre soll ihre Zahl auf 221 ansteigen. Zum Vergleich: In ganz Europa gibt es 35 Städte in dieser Größenordnung. Mehr noch: 23 chinesische Städte haben mehr als fünf Millionen Einwohner. Obendrein liegen sechs von weltweit zehn „Megastädten” — definiert als Metropolen mit mehr als zehn Millionen Einwohnern — in China.

Solche Ballungsräume, insbesondere wenn sie weiter wachsen, erzeugen ökologische Probleme, die wiederum die Lebensqualität ihrer Bewohner negativ beeinflussen. Jeder, der einmal an einem versmogten Tag in Peking war, kennt das Problem. Können chinesische Planer die urbane Energieversorgung sicherstellen, Verkehrsprobleme lösen, gleichzeitig den Energieverbrauch reduzieren und CO2-Emmissionen minimieren, und das alles, während die Stadtbevölkerung weiter im Wachstum begriffen ist? Fakt ist, Planer stehen in jeder Hinsicht vor einer großen Herausforderung. In ihrem Fokus sollte jedoch die Verlangsamung eines Städtewachstums sein.

Beim gegenwärtigen Tempo der Urbanisierung in China soll das städtische BIP in den kommenden Jahren bis 2025 voraussichtlich um 200 Prozent wachsen. Im selben Zeitraum soll der Energieverbrauch um rund 100 Prozent steigen. Das Ziel ist also, das Wachstum des Energieverbrauchs so zu drosseln, dass es sich „nur” verdoppelt. Dies bedeutet, dass die Verbesserung der Energieeffizienz rascher voranschreiten muss als das Wachstum des Energiekonsums. Das stellt hohe Anforderungen an den Ausbau der Infrastruktur in chinesischen Städten.

Zum Teil lösen die Metropolen dieses Problem, indem sie es schlicht auslagern: Städte, die es sich leisten können, schieben schmutziger Produktion durch höhere Umweltauflagen einen Riegel vor. Das führt oft dazu, dass die betroffenen Firmen die Produktion in ärmere Kommunen verlagern, die sich solche Auflagen nicht leisten können. Bleibt zu hoffen, dass sich längerfristig eine Art trickle down effect auch mit Hinblick auf Umweltbestimmungen einstellt.

Andere Maßnahmen greifen die Probleme direkter an der Wurzel an. So beispiellos das Ausmaß der chinesischen Urbanisierung ist, so außerordentlich sind auch die Summen, die China in den Ausbau seiner Infrastruktur steckt. Seit 1992 hat China jedes Jahr im Schnitt 8,5 Prozent seines nationalen Einkommens für Infrastrukturmaßnahmen aufgewendet. Zum Vergleich: In der EU und den USA sind es etwa 2,6, in Indien 3,9 Prozent.

Besonders deutlich zeigt sich dies an den U-Bahnen, die immer mehr chinesische Städte untertunneln. Es sind nicht mehr bloß die größten Metropolen des Landes, die sich U-Bahnnetze leisten, längst setzen auch mittelgroße Städte auf Metros und Straßenbahnen. Auf längere Sicht, so schätzt das McKinsey Global Institute, könnten in China in rund 170 Städten solche Massenverkehrssysteme entstehen. Auch das ist ein Weltrekord. In Europa gibt es zurzeit etwa halb so viele.

Ein anderer Schlüsselbereich ist neben Energiegewinnung, Produktion und Verkehr auch die Gebäudetechnologie. In den Jahren bis 2025 sollen in China fünf Millionen neue Gebäude mit insgesamt 40 Milliarden Quadratmetern Nutzfläche entstehen. Rund 50.000 dieser Gebäude dürften Wolkenkratzer sein. Allein in Shanghai wurden in den vergangenen zehn Jahren mehr Wolkenkratzer gebaut als in ganz New York City stehen. Das schiere Ausmaß der Bauaktivität zeigt, wie wichtig es für den ökologischen Fußabdruck der Städte ist, welche Baumaterialen verwendet werden und wie effizient die neuen Gebäude mit ihrer Energie wirtschaften.

Es bleibt abzuwarten, ob es gelingt, dafür zu sorgen, dass die Chancen der Urbanisierung Chinas ihre Risiken langfristig überwiegen — oder ob das Gegenteil eintreten wird.

 

 

 

 

 

 

Justus Krüger

Justus Krüger ist China-Korrespondent in Hongkong mit Beiträgen für CNN, die Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandradio und viele andere.