Chinesische Softpower: Die Vision der neuen Seidenstraße

„Ich kann fast die Kamelglöckchen klingeln hören und die Rauchwölkchen in der Wüste aufsteigen sehen“, so der Generalsekretär der Kommunistischen Partei und Präsident Chinas, Xi Jinping, am 7. September 2013 in einer Rede in Kasachstan, in der er die Legende der antiken Seidenstraße beschwor. Von der Magie der alten sollte der Mythos einer neuen leben, an deren Vision sich, seit Xi sie proklamierte, weltweit die Fantasie von Unternehmern und Politikern entzündet.


Über sechs kontinentale und drei maritime Routen, darunter eine durch das Nördliche Eismeer, soll sie 65 Nationen mit 4,4 Milliarden Einwohnern in Europa und Afrika quer über den eurasischen Kontinent hinweg, sowie durch Südostasien, Südasien und den Indischen Ozean miteinander verbinden; so hieß es, als die chinesische Führung das Projekt später genauer ausbuchstabierte. 900 Milliarden Dollar würden über die neu gegründete Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) für mehr als 600 Projekte bereitgestellt werden; China selbst werde 124 Milliarden aufbringen. Ist das etwas Neues, Großes, ein interkontinentales Infrastrukturnetzwerk zur Beschleunigung des globalen Wirtschaftsaustauschs, das den amerikanischen Marshallplan zum Wiederaufbau Westeuropas und Ostasiens nach dem Zweiten Weltkrieg in den Schatten stellen wird? Oder wird Xis Traum sich als Chimäre entpuppen, wie die alte Seidenstraße, die es niemals wirklich gab (außer im 12. Jahrhundert, als das kriegerische Mongolenreich einen Raum friedlichen Handels vom Mittel- bis zum Gelben Meer garantierte), sondern sich einer klugen Namensgebung des deutschen Gelehrten Ferdinand Freiherr von Richthofen im Jahr 1877 verdankt?

Jedenfalls faszinierte rasch die Verknüpfung des gigantischen Investitionsvorhabens mit einem großen Mythos - und der Aussicht auf das Geld Chinas; Peking verfügt immerhin über drei Billionen Dollar an Devisenreserven. Zugrunde liegt jedoch ein eher prosaischer und sinnvoller Gedanke. Um die Infrastruktur eines modernen Industrielands aufzubauen, hat China seit Jahrzehnten Beton und Stahl produziert. Die Produktion läuft weiter und beschäftigt Millionen von Arbeitern, obwohl die Infrastruktur Chinas weitgehend steht und die Volkswirtschaft nun den qualitativen Schritt in eine Mittelklassen- Gesellschaft tun sollte. Wohin mit dem Überschuss? Warum nicht das Gleiche tun, was in China selbst gelungen ist, nämlich nicht benötigte Ressourcen in die unterentwickelten Landesteile zu kanalisieren, nun aber westlich von Chinas Grenzen in die Weiten Zentralasiens? Die fünf Staaten dort warten nicht nur auf ihre Modernisierung, sondern stellen auch die Landbrücke nach Europa dar, dem mit den USA wichtigsten Wirtschaftspartner Chinas. Dieser Gedanke war es, den Xi Jinping 2013 den Zentralasiaten vorschlug.

Vier Jahre später heißt die neue Seidenstraße „Gürtel-und-Straßen-Initiative“ (englisch: Belt and Road Initiative; BRI) und die ersten großen  Erfolge werden ihr zugeschrieben:  Chinesische Staatsunternehmen investierten  alleine im Jahr 2017 mehr  als 20 Milliarden Dollar in 68 Containerhäfen und Terminals weltweit  - fast das Doppelte der Summe des  Jahres 2016 - und kontrollieren nun teilweise oder ganz Häfen wie Valencia, Piräus, Zeebrugge, Darwin, Hambantota  in Sri Lanka oder Paranagua  in Brasilien als Zugangspunkte  für chinesische Ex- und Importe zu den Volkswirtschaften der dahinter liegenden Länder und Regionen; geplant  sind für die nächsten Jahre weitere solche Investitionen in Indonesien, Malaysia, Myanmar und Singapur. In Zentralasien stellt Kasachstan  sich als „eurasischer Verkehrsknotenpunkt“  vor und weist bereits eine  Verfünffachung des Cargoverkehrs durch das Land von 2013 bis 2016 auf; Usbekistan kündigt an, „Bindeglied  für internationale Transporte“ zu werden, Georgien sieht sich als „regionalen Vorposten für globale  Investitionen.“ Auch in Europa bietet  China Investitionen an, um das eurasische Verkehrs- und Kommunikationsnetz auszubauen. Peking hat einen Kreis osteuropäischer Staaten  als bevorzugte Partner identifiziert, derzeit 16, davon elf EU-Mitglieder. Nachdem China den griechischen Hafen Piräus ausgebaut hat, soll eine  Bahnverbindung durch den Balkan  bis nach Ungarn und zur polnischen  „Bernsteinstraße“ entstehen, die das Mittelmeer mit den Staaten  Osteuropas und diese wiederum mit Ostasien verbindet. Am 27. November 2017 feierten die „16+1“ auf einem Gipfeltreffen in Budapest das  Potential der BRI für ihre künftige Entwicklung und die ersten Erfolge: Bereits 2016 transportierte die Bahn  von China zu europäischen Zielpunkten insgesamt 205 000 Container – eine Steigerung von 36 Prozent gegenüber 2015.

Die BRI ist allerdings, der enthusiasmierten Aufnahme zum Trotz, kein Selbstläufer. Der Preis der Bahnverbindung liegt zwischen dem länger  dauernden Seetransport und dem  schnelleren Luftweg. Die Kosten rechnen sich daher nur, wenn erwartete Lieferfrist und Preis genau den  Anforderungen entsprechen. Hinzu kommt, dass die Container zum größten Teil leer nach China zurückfahren. Dies wäre anders, hätte der erwartete Wirtschaftsboom in Zentralasien bereits begonnen und könnten die Bahnverbindungen zum eurasischen Binnentransport auch auf kürzeren Zwischenstrecken verwendet werden. Zentralasien allerdings bietet bisher nichts, was kommerzielle, profitorientierte Investoren anlocken könnte. Die AIIB hat daher beschlossen, statt jenes pauschalen 900 Milliarden- Angebots einen Sonderfonds für nicht kommerziell zu finanzierende Projekte aufzulegen, der 55 Milliarden Dollar umfasst. Neun valide Projekte hat die AIIB im Jahr 2017 in die Prüfung genommen. Diese jedoch, wie eine Bahnlinie in Südostasien, würden sich ohnehin rechnen und sind seit Langem geplant. Eher als geopolitisch motivierte Entwicklungshilfe sind die Projekte zu zählen, die China bereits in Pakistan vorantreibt, um hier für 57 Milliarden Dollar in einem „chinesisch-pakistanischen  Wirtschaftskorridor“ eine  Straßen- und eine Pipelineverbindung  von Westchina zum Indischen Ozean zu bauen. Diese Projekte stoßen  auf Furcht vor Überfremdung in Pakistan, sodass China bereits Streitkräfte  zur Projektsicherung nach Pakistan  entsenden musste und am 8. Dezember 2017 vor „terroristischen  Angriffen“ auf Chinesen in Pakistan warnte.

Ob der Aufkauf von Häfen, der Bau von Infrastruktur quer über die Kontinente, die Schaffung strategisch wertvoller Land- und Seelinien für chinesische Im- und Exporte, kontinentumspannende digitale Netzwerke, die Stärkung der internationalen Rolle des Yuan, sie alle sind natürliche Konsequenz der Dynamik der chinesischen Wirtschaft. Sie liegen im Interesse des globalen Wachstums und auch der Wirtschaftspartner Chinas. Allerdings erzeugen sie zugleich Reibungen politischer Natur. Da chinesische Unternehmen gewöhnlich Staatsunternehmen sind, agieren sie in staatlichem Auftrag und unterstützen damit nicht nur Profitinteressen (schon gar keine privatwirtschaftlichen, wie seinerzeit der Marshallplan), sondern staatliche Zielsetzungen. Aus der Wirtschaftsexpansion scheint eine in Peking zentral geplante geostrategische und geoökonomische Machtexpansion zu werden. Indien, das sich durch Chinas Aktivitäten in Pakistan, Myanmar und Sri Lanka eingekreist sieht, reagiert darauf mit der Ankündigung, BRI zu boykottieren. Die USA und Japan, die die Furcht vor einer chinesischen Front in ganz Südostasien umtreibt, lancierten im November eine eigene Initiative für einen „offenen und freien Indo-Pazifik“, die BRI kontern soll. Der amerikanische Außenminister Rex Tillerson kündigte im Oktober an, die USA würden für die Länder der Region „transparente Kreditmechanismen mit hohen Standards“ entwickeln, statt den Ländern der Region „wachsende Schulden aufzubürden,“ und der japanische Premier Shinzo Abe sagte während seiner gemeinsamen Pressekonferenz mit Donald Trump am 5. November 2017 in Tokio, er wolle mit den USA eine „faire und wirksame Wirtschaftsordnung in der Region herstellen” und Alternativen zu den chinesischen Infrastrukturprojekten anbieten.

Auch die EU sieht sich, wie das Handelsblatt im Frühjahr schrieb, „brüskiert“. So äußerte die EU-Kommission Kritik daran, dass China unter den 16+1 einen Wettlauf um chinesische Investitionen auslöse, der dazu führe, dass EU-Staaten sich auch durch politisches Wohlverhalten finanzielle Zusagen sichern wollten. Beispiele dafür gibt es bereits: Griechenland etwa blockierte im Juni eine EU-Erklärung zur Menschenrechtslage in China. Zugespitzt forderte deshalb der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel am 30. August 2017 in Paris, indem er den chinesischen Begriff des „Ein-China-Prinzips“ (die Forderung Pekings, die Zugehörigkeit Taiwans und Tibets zur Volksrepublik zu akzeptieren) aufgriff, China solle sich seinerseits an das „Ein-Europa-Prinzip“ halten. Auf dem BRI-Gipfel im Mai 2017 mit über 1200 Delegierten aus 110 Ländern (darunter 29 Staatsoder Regierungschefs) lehnte die EU ab, die Abschlusserklärung zu unterschreiben, solange die Verpflichtung auf internationale Standards für Ausschreibungen und Kreditvergabe fehle. Die chinesischen Initiativen in Zentralasien kommentierte die EU-Kommission, dass sich Probleme der Region nicht nur technisch beheben ließen, sondern die erfolgreiche Bekämpfung der Korruption und die nachhaltige Diversifizierung der rohstoffabhängigen Wirtschaft der Länder der Region Voraussetzung seien. Es gehe nicht nur um die Verbesserung der Infrastruktur, sondern auch um die Vorbereitung auf Klimawandel und digitalen Wandel sowie die Sicherstellung eines regelbasierten und transparenten Wettbewerbs.

Hier kommen wir dem Motiv der Seidenstraßeninitiative auf die Spur, wie es sich, angetrieben durch das weltweite Interesse, fortentwickelt hat. Durch die rasche chinesische Wirtschaftsexpansion können, so sehr sie den Takt der künftigen Globalisierung vorgeben und neue Hoffnungen auf Wachstum erzeugen mag, auch Misstrauen, Gegenkräfte und Konflikte entstehen. Das wäre ein Hemmnis für Chinas weitere Entwicklung. Ihm soll mit einer Strategie vorgebeugt werden, die für die Kommunistische Partei Chinas zum geübten Repertoire innenpolitischer Herrschaftsabsicherung gehört - jetzt aber im Ausland: mit einer groß aufgezogenen Propagandakampagne. Der 19. Parteitag der Kommunistischen Partei im Oktober 2017 nahm BRI in die Partei-Statuten auf, und zwar als Teil chinesischer Außen-, nicht der Wirtschaftspolitik. Das macht Sinn. Wir haben es mit einem Projekt zu tun, das durch Ausbau der chinesischen Softpower der Furcht vor der chinesischen Expansion wenigstens teilweise die Spitze nehmen soll. So verlangt die Propagandaabteilung des ZK der KP, mit BRI „positive Geschichten über China“ zu verbreiten und die öffentliche Meinung im Ausland zu „lenken“.

In seiner Rede vor dem Parteitag am 18. Oktober 2017 hätte Xi Jinping kaum prosaischer sein können: „China wird die internationale Zusammenarbeit durch die Gürtel-und Straßen- Initiative aktiv befördern. Damit hoffen wir Verbindungen zwischen Politik, Infrastruktur, Handel, Finanzwirtschaft und Menschen zu schaffen und eine neue Plattform für internationale Zusammenarbeit zu bauen, um einen neuen Antrieb für gemeinsame Entwicklung zu erschaffen. Mit solchen Bemühungen hoffen wir, neuen Grund für die Öffnung Chinas durch Verbindungen nach Osten und Westen, über Land und über die See zu legen.“ Vielleicht war es ursprünglich wirklich nur der bescheidene Gedanke zur Lösung des Problems der Überschussproduktion Chinas. Entwickelt hat er sich aber heute in ein in seiner rhetorischen Reichweite kaum mehr zu fassendes Konzept, das dem Ausland die chinesischen Strategien attraktiv zu verpacken sucht. Bereits 2014 ließ China bei der UNESCO die antike Seidenstraße als chinesisches „Weltkulturerbe“ registrieren. Ein mit amerikanischen Schauspielern (und Jackie Chan) gedrehter Film („Drachenklinge“) schildert die alte Seidenstraße als antikes chinesisches Friedenserhaltungsprojekt, ein Rap-Song bringt die Projektplanung klanglich nahe, die gewagten, aber ergebnislosen Entdeckungsfahrten des Ming-Zeit-Generals Zheng He werden zum Beleg traditioneller chinesischer Dominanz in Südostasien und auf dem Indischen Ozean als Vorläufer der geplanten maritimen Seidenstraße uminterpretiert. Wenn auf den Philippinen chinesisches Porzellan aus der Song-Zeit gefunden wird, dient dies als bedeutsam für den Aufbau der maritimen Seidenstraße. Es gibt keinen Bereich, der nicht irgendwie erfasst würde: Durch „Nachhaltigkeit und Digitalisierung“ soll BRI selbst „den Weg zu einer ökologischen Zivilisation ebnen“.

Beim Umgang mit BRI gilt es daher, zwei Aspekte im Auge zu behalten: die Chancen, die der chinesische Aufstieg weiter bietet, und den Propaganda-Hype. Gegenüber letzterem empfiehlt sich jener nüchterne Blick, wie ihn offenkundig die deutsche Wirtschaft in China längst pflegt, also jene Unternehmen, die alltägliche Erfahrung mit Chancen und Schwierigkeiten des chinesischen Markts ebenso wie mit Stärken und Schwächen chinesischer Politpropaganda haben. Eine Umfrage der AHK in Peking vom 5. Dezember 2017 unter den deutschen Unternehmen ergab, dass etwas mehr als ein Drittel „positive Auswirkungen“ von BRI auf ihre Tätigkeit in China erwartet. Etwas mehr als fünfzig Prozent erwarten keine Veränderungen. Kühl-kalkulierende kaufmännische Vernunft dürfte sich auch in Zukunft am ehesten rechnen. Die neue Seidenstraße mag niemals ein neuer Mythos werden; Ausdruck der Attraktivität Chinas ist sie durchaus.


Dr. Volker Stanzel

Dr. Volker Stanzel, Botschafter a.D. und ehemaliger Politischer Direktor des Auswärtigen Amts, tätig für die Stiftung Wissenschaft und Politik sowie der Hertie School of Governance in Berlin.