Society 5.0 – Japans Reaktion auf „Industrie 4.0“
Premierminister Abe präsentierte im Jahr 2017 sein gesellschaftspolitisches Zukunftskonzept „Society 5.0“ auf der CEBIT in Hannover der Weltöffentlichkeit. Was sind die Ziele der Regierung und kann das Konzept auch für andere Länder Anwendung finden?
Japans „Society 5.0“ soll über wirtschaftliche Ansätze hinaus gesellschaftspolitische Antworten geben auf Veränderungen wie Digitalisierung, demografischer Wandel, Globalisierung. Vor allem drei Aspekte stechen hervor:
A) Maschinenkommunikation (AI/ IoT), Big Data, Robotik, Fintechund Block-Chain-Technologien, Cyber- Physical Security Framework und das Zusammenspiel dieser Elemente sollen dazu beitragen, Japans wirtschaftliche, soziale und ökologische Herausforderungen zu lösen. Dafür will die japanische Regierung die technologischen und regulatorisch- organisatorischen Voraussetzungen schaffen.
B) Gleichzeitig ist das Ziel erkennbar, Japan im globalen Wettbewerb mit dem weltweit am weitesten entwickelten Gesellschaftskonzept als kraftvolle Zukunftsvision zu positionieren. Die Frage ist, ob Society 5.0 ein Konzept für Japan als Insellösung bleibt oder für einen globalen Dialog auf Augenhöhe geöffnet werden soll.
C) Schließlich nutzt Abe das Konzept innenpolitisch zum Abbau von Zukunftsängsten, zur nationalen Integration und zur Sicherung der politischen Basis des Premierministers und seiner Partei.
Einzelheiten des Konzepts einer Super Smart Society
Japan betrachtet sich für die nächste Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft, deren technologische Basis eine vernetzte Entwicklungsplattform erfordern wird, bereits besser aufgestellt als andere Gesellschaften. Die in Japan vorhandenen gesellschaftlichen und politischen Grundlagen sollen daher weiter gestärkt werden. Folglich sieht die japanische Regierung ihre Aufgabe für die nächsten Jahre darin, die Infrastruktur der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen, der Normen und Standards, der Bereitstellung von Daten, der Resilienz und Sicherheit und die Verfügbarkeit der nötigen Arbeitskräfte zu gewährleisten. Auf dieser Grundlage sollen dann Bereiche wie intelligente Produktions- und Transportsysteme, integrierte und nachhaltige Energie- und Materialkreisläufe sowie neue Lösungen in Einzelhandel, Gesundheit etc. in enger Koordination mit der Wirtschaft und anderen Stakeholdern gezielt gefördert werden.
Die Regierung von Premier Abe rechnet sich einen unmittelbaren politischen Nutzen des Konzepts aus. Der „Dritte Pfeil“ von Abenomics, Strukturreformen insbesondere in der Sozialpolitik, stößt mit sinkenden Realeinkommen bei immer breiteren Schichten der japanischen Bevölkerung auf zunehmende Skepsis. Deshalb braucht der Premier eine Vision von einer erfreulicheren Zukunft für alle Japaner. Technologie, deren ethische Grenzen noch gar nicht diskutiert werden, dient der Regierung auch als Mittel, dem Wähler eine futuristische Politik schmackhaft zu machen, ohne kurzfristiges politisches oder monetäres Kapital in die Waagschale werfen zu müssen. Erwartungen bzgl. wirtschaftlichem Wachstum werden so geschickt in die Zukunft verlegt. Eine zentrale Rolle sollen drei Stakeholder einnehmen: Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung. Der 2016 veröffentlichte erste Arbeitsplan für Society 5.0 richtet sich an die Verwaltung, Wissenschaft, Industrie und Bürger, um durch Zusammenarbeit Japan in das innovationsfreundlichste Land der Welt zu verwandeln. Für die Großunternehmen ist Society 5.0 vor allem eine Gelegenheit, weltweit und auch national die Leistungsfähigkeit japanischer Produkte und Dienstleistungen zu präsentieren und diese gezielt weiterzuentwickeln. Gleichzeitig erhoffen sie sich Subventionen für ihre Forschung. Die Wissenschaft soll der japanischen Wirtschaft das technische Know-how bereitstellen. Die konkreten Ziele des Wissenschaftsministeriums bleiben vage, entsprechende Strategien sind aber zu erwarten. Das Bildungswesen soll Menschen heranziehen, die sowohl über Allgemeinwissen verfügen als auch Humanressourcen darstellen, die eine neue Gesellschaft führen können.
Gesellschaftliche Diskussion über Society 5.0 in Japan und Deutschland
Society 5.0 zeigt, dass das Hineintragen aller Herausforderungen – auch ethischer Fragestellungen – in die Arena der gesellschaftlichen Diskussion notwendig ist. Hier sind unterschiedliche Voraussetzungen in Japan und Deutschland zu erkennen. Ausgangspunkt der deutschen Strategie „Industrie 4.0“ ist die Technologieentwicklung unter dem Druck ausländischer Konkurrenz und unter Veränderungen der globalen Wettbewerbsregeln. Von Anfang an wurde ergebnisoffen gearbeitet. Die gesellschaftliche Einbettung wird breit und kontrovers diskutiert. Dies macht das Konzept global diskussionsfähig und möglicherweise übertragbar. Dass für Deutschland keine Insellösung möglich sein wird, ist selbstverständlich.
Anders Japan: Technologiefelder mit einheimischen Lösungen stehen im Mittelpunkt. Der Traum, Japan trotz technologischer Veränderungen in Kern und Seele zu erhalten, scheint wie ein ferner Lichtglanz durch das ganze Konzept. Japaner sind aus ihrer Tradition heraus eher unkritisch gegenüber technisch Neuem – neue Technologien werden von Konsumenten begeistert aufgenommen und der Staat beschränkt seine Rolle bisher darauf, nicht haftbar gemacht zu werden. Gerade die Stärke des japanischen Konzepts Society 5.0, die Einbettung der neuen Technologien in die gesamte Gesellschaft, wird bisher wenig für eine Diskussion in Japan selbst zum Anlass genommen, da zumindest für einige der politischen Protagonisten die Ergebnisse und Prioritäten bereits feststehen.
In Deutschland zeigt die breite gesellschaftliche Diskussion über „Arbeit 4.0“ und über die Machtverhältnissein der digitalen Gesellschaft, dass ethische Leitplanken erarbeitet werden und in der Zivilgesellschaft auf demokratischem Weg Akzeptanz erst finden müssen, die in Japan bereits vorausgesetzt wird. Deutschland verfügt mit den Mechanismen der sozialen Marktwirtschaft über eine etablierte Experimentier- und Korrekturplattform. Diese Diskussionen und Entwicklungen in Deutschland könnten auch Japan Impulse geben.
Vorsichtige Öffnung von Society 5.0 – Streben nach einem Ausblick Genau wie der technische Dialog über Industriestandards ist der gesellschaftspolitische Dialog zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik erst dann nachhaltig, wenn er im Kontext globaler Verantwortung geführt wird. Dabei wohnt dem bisherigen Konzept von Society 5.0 ein Antagonismus inne: Einerseits möchten die politischen Protagonisten Society 5.0 als japanisches Erfolgskonzept in die Welt hinaustragen. Andererseits ist der Grundgedanke national exklusiv gedacht: Japan soll zumindest in den Augen des einheimischen Publikums als führende Nation in der Gesellschaftspolitik positioniert werden.
Das Cabinet Office hat diesen Spannungsbogen in jüngerer Zeit angedeutet und betont, dass Society 5.0 ein Beitrag zu den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen sein kann – während Japan die erste Gesellschaft sein soll, die das Niveau einer Society 5.0 erreicht. Der japanische Industrieverband Keidanren denkt einen Schritt weiter: Die weltweite Teilhabe und ein globaler Wettbewerb würden möglich, indem in- und ausländische Produkte ebenbürtig einbezogen werden. Durch diesen Schritt könnte die Society 5.0 sich dem internationalen Wettbewerb um Ideenkonzepte stellen.
Die deutschen Stakeholder können durch die schnellere Durchdringung der japanischen Gesellschaft mit neuen Technologien viel über deren Wirkung lernen. Bereits heute kann das Konzept von deutscher Seite genutzt werden, um im Kontext von „Technologie und Gesellschaft“ zuzuhören und mehr über Japan und die Denkweise seiner Entscheidungsträger zu erfahren und diese zurückspiegeln. Die so gewonnenen Erkenntnisse können die Diskussion über die digitale Zukunft in beiden Ländern bereichern und den zivilgesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Dialog biund multinational voranbringen.