Nach 40 Reformjahren: China auf dem Weg zu einem neuen Wirtschaftsmodell

Im Jahr 1978 begann ein Reformprozess, der Chinas Aufstieg zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht ebnete. Nun will die politische Führung ein neues innovationsgetriebenes, sozial ausgeglichenes und nachhaltiges Wirtschaftsmodell einführen. Strukturelle Änderungen im Regierungsapparat und Anpassungen des ideologischen Selbstverständnisses sollen in der neuen Ära die Orientierung auf ein qualitatives Wachstum und die Realisierung des „China Dream“ erleichtern.


Schlüsselrolle für die KPCh in der „Neuen Ära“

Auf dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Oktober 2017 und der anschließenden Plenartagung Ende Februar 2018 stand die Legitimierung der umfassenden Führungsrolle der Partei zur Verwirklichung ihrer ambitionierten Entwicklungsziele im Mittelpunkt. Der Nationale Volkskongresses (NVK) beschloss dazu im März 2018 eine Verfassungsänderung, die diese Führungsrolle festschreibt. Als neues Verfassungsorgan wurde eine dem Staatsrat gleichgestellte „Nationale Aufsichtskommission“ geschaffen. Sie soll gewährleisten, dass nicht nur die Arbeit der Partei- und Regierungsfunktionäre hinsichtlich Korruption und Umsetzung politischer Vorgaben kontrolliert werden kann, sondern auch die anderer Organisationen wie beispielsweise von Unternehmen und Hochschulen. Zu den Neuerungen in der Verfassung zählt auch, dass die Begrenzung der Amtszeit des Staatspräsidenten auf zwei Amtsperioden von fünf Jahren aufgehoben wurde, so dass Xi Jinping auch länger als bis 2022/23 Führungsfunktionen ausüben kann. Auf der ideologischen Ebene wird am Erbe des Marxismus-Leninismus festgehalten, dieses aber neu interpretiert. In der „sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung für die neue Ära“ werden weiterhin erfolgversprechende Elemente kapitalistischer Wirtschaftssysteme integriert und gleichzeitig Schlüsselbereiche im Industrie- und Finanzsektor weiterhin staatlich kontrolliert.

Effizientere Regierungsstrukturen

Die strukturellen Änderungen im Regierungsapparat spiegeln die politischen Prioritäten in der neuen Ära wider. Zu den umgestalteten Ministerien von zentraler Bedeutung zählen das „Ministry for Natural Resources“ und das „Ministry for Ecological Enviroment“, die beide gegenüber ihren Vorläufern umfangreiche zusätzliche Aufgaben wie z.B. Klima- und Gewässerschutz übernehmen. Weiterhin wurde das „Ministry of Science and Technology“, das für die Reorientierung auf ein innovationsgetriebenes Wachstum eine Schlüsselrolle spielt, durch die Integration des „State Administration of Foreign Experts Offi ce“ sowie der „National Science Foundation“ stark aufgewertet. Für den Übergang von der Imitation zur Innovation steht auch die Aufwertung des „State Intellectual Property Offi ce“, das für die strengere Berücksichtigung geistiger Eigentumsrechte mehr Funktionen und zentralstaatliche Finanzierung erhält. Neu ist auch die strukturelle Anpassung von Regulierungsbehörden mit dem Ziel, die gesamtwirtschaftliche Steuerung zu verbessern und die Stabilität zu gewährleisten. Ein Beispiel ist die Zusammenlegung der Behör den für die Aufsicht über Banken und den Versicherungssektor. Hierdurch sollen finanzielle Risiken begrenzt werden, die durch die Nutzung illegaler Finanzierungsvehikel auf den lokalen Ebenen entstanden sind. Darüber hinaus hat die Zentralbank mehr Macht erhalten, Gesetze und Regulierungsmaßnahmen im Finanzsektor zu erlassen und umzusetzen. Weiterhin hat die neu gegründete „State Market Regulatory Administration“ (SMRA) eine Reihe von Regulierungsbehörden integriert, um die Politikmaßnahmen und ihre Umsetzung zu koordinieren. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass mit Hilfe der Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen und Kontrolle der Partei die Entwicklungsziele wie beispielsweise im industriellen Sektor das „Made in China 2025“- Programm oder im Umweltschutz die „Green China“-Initiativen besser umgesetzt werden sollen.

Fortschritte beim Strukturwandel

Als Reaktion auf veränderte Wachstumsbedingungen der Weltwirtschaft nach 2008 drängte die politische Führung auf eine Beschleunigung des Strukturwandels. Traditionelle Industrien sollten modernisiert und neue Industrien mit hoher Wertschöpfung aufgebaut werden. Unter den Bedingungen der „neuen Normalität“ sollte das Wachstumstempo abgebremst werden, um die Restrukturierung und damit ein stärker qualitatives Wachstum zu erleichtern. Zwischen 2013 und 2017 sank das Wirtschaftswachstum von 7,8 Prozent auf 6,9 Prozent und soll auch in den kommenden Jahren eine Marke von rund 7 Prozent nicht übersteigen. Erste Erfolge bei der Umstrukturierung der Wirtschaftssektoren konnten erreicht werden. Zwischen 2013 und 2017 ging der Anteil der Landwirtschaft um 1,4 Prozentpunkte und der Anteil des Industrie- und Bausektors um 3,5 Prozentpunkte zurück, während der Dienstleistungssektor mit einer Zunahme von 46,7 Prozent auf 51,6 Prozent weiter an Bedeutung gewann. Für die traditionellen Zentren der Schwerindustrie im Nordosten und in Zentralchina ist der Strukturwandel eine große Herausforderung, die in den letzten Jahren auch mit steigender Arbeitslosigkeit verbunden war. Der Abbau von Überkapazitäten setzte vor allem im Stahl- und Kohlesektor Arbeitskräfte frei. Um die Folgen des Strukturwandels abzufedern, fördert der Staat die Ansiedlung neuer und das technologische Upgrading traditioneller Industrien. In Teilen Süd- und Ostchinas sind bereits moderne wissens- und technologieintensive Unternehmen entstanden, vor allem in der Industrie für Informations- und Kommunikationstechnologie sowie in Form moderner Fertigungsindustrien.

Außenwirtschaftliche Herausforderungen

China sieht sich nicht nur einer veränderten Wettbewerbssituation auf dem Weltmarkt gegenüber, sondern auch einer Infragestellung der multilateralen Rahmenbedingungen für Handel und Investitionen. Das derzeitige internationale Klima wird durch die „America First“ Politik des US-Präsidenten geprägt, welcher China neben der EU als prominentes Ziel ausgesucht hat, um das US-Handelsbilanzdefizit abzubauen. Bereits in der “President’s 2017 Trade Policy Agenda” war angekündigt worden, dass die US-Regierung auf ein neues bilaterales Abkommen mit China drängen sowie Strafzölle und Verfahren vor dem Streitschlichtungsausschuss der WTO einleiten wird. In dem inzwischen eskalierten Handelsstreit reagierte China Mitte Juni 2018 mit der Androhung von Strafzöllen in Höhe von 50 Mrd. USD auf die gegen das Land von den USA verhängten zusätzlichen Zölle in demselben Umfang. Obwohl China und die EU ein gemeinsames Interesse haben, die bestehende multilaterale Handelsordnung zu erhalten, existieren jedoch auch unterschiedliche Positionen. Hierzu zählt die von der EU-Seite beklagte unzureichende Reziprozität bei Direktinvestitionen europäischer Unternehmen in China, die sich Marktzutrittsbarrieren und Diskriminierungen im chinesischen Markt gegenübersehen. Vor dem Hintergrund der schwierigen weltwirtschaftlichen Lage, werden Wachstumsprognosen für die chinesische Wirtschaft schwieriger als zuvor. Obwohl China bereits mit einer stärkeren Binnenmarktorientierung begonnen hat und der private Konsum im Jahr 2017 einen Anteil von 58,8 Prozent zum BIP beigetrug, ist der Export nach wie vor ein wichtiger Wachstumsmotor. Bereits im letzten Jahr war die Exportquote schon auf 18,5 Prozent gesunken und betrug im ersten Quartal 2018 nur noch 18,3 Prozent.

Während Chinas Exportwachstum in diesem Jahr voraussichtlich geringer als zuvor ausfallen und weniger zum Wachstum beitragen wird, kann mit einem steigenden Import gerechnet werden. Dazu wird auch die Senkung der chinesischen Zölle auf den Import von ausländischen Fahrzeugen und Kfz-Teilen beitragen. Bisher lagen diese Zölle bei 25 Prozent bzw. 8–25 Prozent (bei Kfz-Teilen) und sollen ab 01.07.2018 auf 15 Prozent bzw. 6 Prozent reduziert werden. Fahrzeuge aus Deutschland, auf die ein hoher Marktanteil entfällt, werden von dieser Entscheidung am meisten profitieren. Zusammenfassend befindet sich China nach 40 Reformjahren vor neuen großen Herausforderungen. Der Wandel hin zu einem stärker qualitativen Wachstum hat zwar begonnen, erwies sich aus Sicht der Autorin jedoch in den letzten fünf Jahren als ungleich schwieriger als erwartet. Zu groß sind die Altlasten des vorherigen Wirtschaftsmodells, bürokratische Hemmnisse und regionale Eigeninteressen. Gleichzeitig hat die chinesische Wirtschaft an weltweiter Bedeutung gewonnen, und zwar sowohl als Produktionsstandort, Absatzmarkt und Wissenschaftsstandort. Als Partner für die Lösung grenzüberschreitender Probleme ist China unverzichtbar und wird bereit sein müssen, mehr Verantwortung in internationalen Gremien zu übernehmen.


Dr. Margot Schüller

Dr. Margot Schüller arbeitet als Ökonomin am GIGA German Institute of Global and Areas Studies in Hamburg. Im Mittelpunkt ihrer Forschung steht
die Entwicklung Asiens, insbesondere der Wandel des chinesischen Wirtschaftsmodells hin zu mehr Innovation und stärkerer Integration in die Weltwirtschaft.