„Das Modell ‚Made in Germany – sold in Asia‘ gehört der Vergangenheit an“
Ein zügiges Tempo bei der digitalen Transformation gilt inzwischen als Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften. Der Vergleichsblick richtet sich schon länger nach Asien-Pazifik, wo man neuartigen Anwendungen und Geschäftsmodellen oft sehr zugeneigt ist. Wo steht Deutschland in puncto Zukunftstechnologien, welche Stärken haben die einzelnen asiatischen Staaten und wie bekommt man die Region unternehmerisch unter einen Hut? Darüber haben wir mit Jürgen Müller, Chief Technology Officer (CTO) beim Branchenvorreiter SAP, gesprochen.
Herr Müller, Sie sind Ende 2018 mit 35 Jahren relativ jung Vorstand für Innovation und Technologie bei Europas größtem Softwarehersteller geworden. Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen?
Das Lebensalter spielt in der Technologiebranche eine nachrangige Rolle. Ich habe vor 21 Jahren angefangen, mich mit Web-Technologien zu beschäftigen. Außerdem arbeite ich ja nicht alleine, sondern im Team. Dieses setzt sich aus Kolleginnen und Kollegen verschiedener Kulturen und unterschiedlichen Alters zusammen, die über den ganzen Globus verteilt sind. Das macht, bei allen Herausforderungen, die sich uns stellen, enorm Spaß. Natürlich tragen wir Verantwortung gegenüber unseren Kunden, nicht nur auf der Hohe der Zeit zu sein, sondern technologische Trends mitzubestimmen und dann auch verfügbar zu machen.
Es ist derzeit viel von disruptiven Technologien die Rede. Wo sehen Sie mittelfristig die größten Disruptionspotenziale und Geschäftschancen?
Ich bin überzeugt davon, dass maschinelles Lernen uns über die nächsten zehn Jahre noch sehr viele Fortschritte bringen wird – und auch neue Herausforderungen. Als ebenfalls einschneidend sehe ich den Wandel von klassischen Kauf- zu flexiblen Miet- oder Sharing-Modellen. Und schließlich finde ich es faszinierend, was sich in Biotechnologie und Materialforschung tut. Man darf bei allem jedoch nie vergessen: Erfolgreich – also wertstiftend – ist selten eine bestimmte Technologie selbst, sondern was man mit ihr tut: also von der Verbesserung bereits bestehender Prozesse bis hin zu ganz neuen Angeboten und Geschäftsmodellen.
≫Südostasien hat spannende Unternehmen im Bereich des E-Commerce und interessante Startups im Bereich von Nachhaltigkeit und Umweltschutz.≪
Es ist fast ein Allgemeinplatz, dass Deutschland in Sachen Digitalisierung gegenüber Asien und den USA weit zurückliegt. Stimmen Sie dem zu und wo würden Sie deutsche Stärken sehen?
Es wäre sicherlich etwas zu pauschal, wenn man sagen wurde, Deutschland oder Europa sind in allen technologischen Bereichen ins Hintertreffen geraten. Gerade bei der Grundlagenforschung gibt es in Deutschland ganz ausgezeichnete Institute und Ergebnisse. Und viele mittelständische Firmen sind auch in der Weltspitze ganz vorne dabei – etwa in der optischen Industrie, bei Laser-Technologien oder Herstellungsprozessen für Platinen. Was uns sicherlich fehlt, ist ein weltweit bedeutender Anbieter von Cloud-Infrastruktur. Das ist aber weniger eine Frage mangelnder Innovation, sondern eher ein Problem der Kommerzialisierung. Bei der Cloud-Infrastruktur haben die bekannten US-Unternehmen ohne Frage die Nase vorn, dicht gefolgt von chinesischen Anbietern. Und ähnlich wie beim E-Commerce ist es ab einem gewissen Punkt so, dass neue Marktteilnehmer diese Skalierungseffekte kaum noch aufholen können.
Wie sieht es in anderen Sparten und Ländern Asiens aus?
In Asien sind chinesische Unternehmen im Bereich der Server- und Netzwerktechnologie sehr weit vorne. Auch bei den Herstellungsprozessen haben wir in den vergangenen Jahren riesige Fortschritte beobachtet. Aber man sollte auch japanische und koreanische Unternehmen nicht abschreiben. In diesen Ländern gibt es hochinnovative Unternehmen, gerade bei der Automatisierung, Industrie-4.0-Prozessen oder bei dem japanischen Thema „Society 5.0“, wo es um die Digitalisierung der Gesellschaft an sich geht. Sudostasien hat sehr spannende Unternehmen im Bereich des E-Commerce und interessante Startups im Bereich von Nachhaltigkeit und Umweltschutz – allerdings sind diese meist eher von regionaler Bedeutung.
SAP ist ein global operierender Technologiekonzern. Wie stellt sich Ihre Präsenz in Asien-Pazifik dar und welche Produktstrategie verfolgen Sie, um die spezifischen lokalen Kundenbedürfnisse zu erfüllen?
Wir sind in Asien-Pazifik in 14 Ländern präsent, aber dort an erheblich mehr Standorten. Allein in Festland-China haben wir sechs Standorte und weitere sechs in Indien. Asien ist für uns nicht nur als Wachstumsmarkt für unsere Losungen interessant, sondern auch als wichtiger Entwicklungsstandort. Mehr als ein Drittel unserer weltweiten Softwareentwicklung findet in Asien-Pazifik statt, vor allem in unseren SAP Labs in China, Indien, Japan und Südkorea. Wir finden in Asien hervorragende Technologiepartner und ganz ausgezeichnete Mitarbeiter – daher werden wir unsere Investitionen dort noch weiter ausbauen. Die Lokalisierung der Produkte für Asien geht bereits weit über Anpassungen an gesetzliche Vorgaben hinaus. Wir integrieren auch lokale Zahlungssysteme wie AliPay oder auch lokale soziale Apps, damit unsere Kunden ihre Geschäftsprozesse voll in die lokalen Gegebenheiten integrieren können. Das Modell „Made in Germany – sold in Asia” gehört der Vergangenheit an. Wir setzen voll auf Ko-Innovation mit unseren Kunden und Partnern. Nur so können wir auch dem scharfer werdenden Wettbewerb in den Ländern Asiens begegnen.
≫Die Kunden der Zukunft leben zu einem immer höheren Anteil in Asien, entsprechend kurzsichtig wäre es, die gesamte Produktion aus Asien zurückzuholen.≪
Es gab vereinzelt Meldungen über Rückverlagerungen von Produktionen aus Asien ins Hochlohnland Deutschland. Glauben Sie, dass sich dieser Trend – begünstigt durch neue digitale Anwendungen – intensivieren könnte?
Es gibt sicherlich Einzelfalle, wo das sinnvoll ist. Dann jedoch weniger aus Gründen eines Effizienzgewinns, also beispielsweise zur schnelleren Verfügbarkeit von Produkten in Europa oder den USA. Primar geht es um länderspezifische Risikoprofile. Die jüngste Corona-Krise und der US-China-Handelskonflikt haben uns das ja wieder deutlich vor Augen geführt. Natürlich erlaubt die Digitalisierung von Herstellungsprozessen eine höhere Automatisierung und vor allem eine bessere Individualisierung der hergestellten Produkte. Das kann den Kostenvorteil einer Produktionsstatte in Asien durchaus wettmachen. Genau beziffern kann man diesen Vorteil aber nur spezifisch für jedes einzelne Unternehmen. Wir als SAP haben keine Software-Entwicklung von Asien nach Deutschland zurückverlegt und haben dies auch nicht vor. Einige unserer Mitbewerber wie zum Beispiel Oracle haben sich komplett aus China zurückgezogen. Dabei gilt es zu bedenken: Die Kunden der Zukunft leben zu einem immer höheren Anteil in Asien, entsprechend kurzsichtig wäre es, die gesamte Produktion aus Asien zurückzuholen. Eine mehrgleisige – wirtschaftlich vertretbare – Strategie scheint mir am besten. Nicht ohne Grund betreiben wir unsere 20 SAP Labs weltweit in 17 Ländern.
Zum Thema Fachkräftesicherung ist jüngst noch die immer dringlichere Notwendigkeit hinzugekommen, Mitarbeiter mit fundierten Digitalkompetenzen auszustatten. Verfolgt SAP hier einen generellen Ansatz über alle Unternehmensteile?
Digitalkompetenz ist für Arbeitsplatze bei SAP eine Grundvoraussetzung, trotzdem muss bei uns nicht jeder Software programmieren können. Es gibt ja auch wichtige Unternehmensbereiche wie zum Beispiel Strategie, Finanzen oder Personal, die sich mit anderen Themen beschäftigen. Generell denke ich aber schon, dass sich heute jeder in einem modernen Unternehmen einen Grundstock digitaler Kompetenz aneignen sollte. Und sei es, um besser zu verstehen, welche Veränderungen auf das Unternehmen zukommen und um ausgewogen reagieren zu können. In fast allen Unternehmensbereichen bringt die Digitalisierung Veränderungen mit sich – diesen Wandel muss man verstehen und vorantreiben können. Die Zeiten, an denen die gesamte digitale Kompetenz in der IT-Abteilung gebündelt wurde, sind definitiv lange vorbei. Nach wie vor sehen wir eine sehr hohe Nachfrage an Fachleuten rund um „Big Data“-Technologien: Das betrifft Datenmanagement, die Datenanalyse oder auch die Datensicherheit. Daneben haben auch Fachleute im Bereich „Cloud Operations“ sicherlich keine Muhe, einen Job zu finden.
Es wird oft gesagt, dass die – etwa im Vergleich zu Asien – strengen Regeln zum Datenschutz in Deutschland eine schnellere digitale Transformation behindern. Sehen Sie das auch so?
Sicherlich ist es gut, dass wir in Europa Daten sehr gut schützen und ich bin auch ein Befürworter klarer Datenschutzrichtlinien. Es war in den vergangenen Jahren so, dass die EU mit der Datenschutzgrundverordnung eine Vorreiterstellung eingenommen hatte, andere Länder jetzt aber nachziehen. In Indien gehen die entsprechenden Regelungen gerade durch die letzten parlamentarischen Hürden. Auch Indonesien und andere Länder Sudostasiens treiben Gesetzesvorhaben zum Datenschutz voran. China hat mit dem Cyber Security Law vor einigen Jahren erst einmal den Schwerpunkt auf die Nationale Sicherheit gelegt, nimmt jetzt aber Bestimmungen zum Schutz persönlicher Daten in den Blick. Als Technologieunternehmen brauchen wir vor allem einfache, klare Regeln sowie Rechtssicherheit. Ich habe den Eindruck, dass die Unklarheiten in Bezug auf die Auslegung des Datenschutzes zu Restriktionen fuhren, die so nicht vom Gesetzgeber beabsichtigt waren. Oder positive Dinge, wie die Anonymisierung von Daten, werden unnötig kompliziert gemacht.
Was würden Sie empfehlen?
Ich glaube, wir konnten viel erreichen, wenn wir den Einzelnen zutrauen wurden, Entscheidungen zu treffen. Letztlich brauchen wir für viele Innovationen Daten, aus denen wir Erkenntnisse gewinnen können. Das gilt übrigens auch für grenzüberschreitenden Datenverkehr. Leider gibt es dazu bislang kaum internationale Abkommen, sodass die meisten Wirtschaftsraume Daten und Datenschutz als nationale oder regionale Angelegenheit betrachten. Das entspricht weder der Wirklichkeit noch ist es zukunftsgerichtet. Hier wurde ich mir internationale Vereinbarungen wünschen und Initiativen durch Wirtschaftsverbande wie dem OAV können da sicherlich auch positiv beitragen.